Auf den sozialen Medien sind immer super tolle Nähbeispiele zu sehen, Werbung für Kurse, die einem beibringen sollen, wie man etwas „perfekt“ oder „wie aus dem Atelier“ lernt zu nähen. Und das verleitet ganz schnell, sich mit den (vermeintlich) perfekten Nähergebnissen oder kunstvollen Quiltings zu vergleichen. Da kommen einem schnell so komische Stimmen in den Kopf, die flüstern: „Das geht doch besser… die Naht ist nicht ganz gerade… die Absteppung sitzt nicht millimetergenau…das Quilting ist total unregelmäßig“. Und zack – aus dem fröhlichen Nähflow wird ein innerer Gerichtssaal. Auf der Anklagebank: du.
Doch mal ehrlich: Sind wir wirklich „schlampig“, wenn wir uns bewusst gegen Perfektionismus beim Nähen entscheiden? Oder liegt darin vielleicht sogar der Schlüssel zu mehr Freude, mehr Kreativität – und mehr fertigen Projekten?
Perfektionismus – nicht nur ein Nähproblem
Perfektionismus begegnet uns überall.
- Bei der Arbeit: Die Präsentation wird noch zigmal überarbeitet, an Übergängen und Schriftarten gefeilt, bevor sie fertig ist.
- Im Haushalt: „Ich kann niemanden einladen, bevor die Fenster geputzt sind oder es perfekt aufgeräumt ist.“
- Auf Social Media: Wir posten das Foto nicht, weil der Hintergrund nicht makellos ist.
Das Muster ist immer gleich: Statt etwas zu tun, halten wir an, eiern herum, zweifeln an uns – und am Ende passiert oft gar nichts.
Apropos aufräumen… kennst du eigentlich schon meinen Blogartikel zum Thema Ordnung im Nähzimmer – da erzähle ich dir, wie auch das ohne Perfektionismus geht!
Ich lese (bzw. höre) gerade das Buch des US-amerikanischen Psychologen Tal Ben-Shahar „Pursuit of Perfect“ – er nennt das die „Tyrannei des Ideals“: Wir hetzen einem Bild hinterher, das unerreichbar bleibt, und verlieren darüber die Freude am eigentlichen Tun. Und dabei ist das doch eigentlich das Wichtigste!
Nähen als Spiegel: Wo Perfektionismus uns stoppt
Im Nähzimmer wird Perfektionismus besonders sichtbar:
- Der „zu gute“ Stoff: Du hast einen super edlen Stoff gekauft oder eine Rarität (out of print) ergattert – und traust dich seit Monaten oder sogar Jahren nicht, ihn anzuschneiden.
- Die Auftrenn-Schleife: Du nähst und trennst die selbe Naht fünfmal auf. Irgendwann sind statt einer Naht nur noch Löcher und Fransen da – und die Lust dahin.
- Das UFO: Dein Projekt liegt halbfertig im Schrank, weil du Angst hast, mit den Knopflöchern – oder dem Quilting oder … alles zu verderben.
Kennst du das? Dann merkst du schon: Perfektionismus ist kein Qualitätsmerkmal, sondern ein Spaß-Killer.
Der Unterschied zwischen „schlampig“ und „lebendig“
Auch ich möchte, dass meine Kleidung hält, gut sitzt und tragbar ist. Auch möchte ich den Quilt mit Freude verschenken oder selber nutzen. Aber zwischen „handwerklich solide“ und „klinisch perfekt“ liegt ein weites Feld.
- Schlampig wäre: unsauber arbeiten, sodass die Nähte reißen oder dein Werk nach einem Waschgang auseinanderfällt.
- Lebendig ist: kleine Abweichungen akzeptieren – eine Nahtkreuzung, die minimal versetzt ist, ein Knopf, der nicht ganz gerade sitzt, das Quilting mit unterschiedlichen Stichlängen oder krummen Linien. Es zeigt: Hier hat ein Mensch etwas erschaffen.
Das ist nicht Nachlässigkeit, das ist Charakter. Und ganz oft kann aus etwas vermeintlich unperfektem ein tolles Extra entstehen.
Und wenn du mal gekaufte Kleidung genauer anschaust, wirst du sehen: da ist beileibe nicht alles perfekt!
Beispiele aus (meinem) echten Leben
- Das verwackelte Quilting: ein verwackeltes Quilting hat mich dazu animiert, das Quilting zu ergänzen – und schwupps war das „Butterkekszähnchen-Muster“ erfunden. Und ich lieb’s!
- Die zusätzliche Naht: Ich habe beim Zuschnitt meines Kleides das Schnittmuster an der Schulter nicht ganz aufgeklappt und somit war die Schulter zu kurz. Also habe ich einfach „angestückelt“ und so hat das Kleid einfach zwei Schulternähte. Fällt niemandem auf, wenn ich nicht darauf hinweise.
- Das Label: Ich habe schon (öfter…) aus Versehen in den Stoff nochmal reingeschnitten (Z.B. beim Nähen mit der Overlock). Das wurde dann der optimale Platz für ein Label.
- Der Flügelärmel: Hast du wie ich auch schon mal 2 rechte Ärmel zugeschnitten und der Stoff reicht nicht, um noch einen linken Ärmel zuzuschneiden? Vielleicht passen dann aber improvisierte, kurze Flügelärmel an die Bluse.
- Die Plotterfolie: Ich hatte ein Hoodie, an dem sich die Plotterfolie immer an einer Ecke gelöst hat. Beim Versuch, sie abzulösen wurde es ganz hässlich. Also habe ich den ganzen Streifen rausgeschnitten, ein Stück kontrastfarbigen Stoff genommen und eingesetzt. Das sieht richtig cool aus!
Siehst du, was passiert? Wenn wir nicht verkrampft an der Perfektion hängen, entstehen kreative Lösungen, Stilbrüche, Einzigartigkeit.
Perfektionismus blockiert – Machen befreit
Wie oft sind Projekte in deinem Nähzimmer liegengeblieben, weil du Angst hattest, sie könnten „nicht gut genug“ werden?
Das Problem: Perfektionismus ist ein Bremser. Er hält uns davon ab, Neues auszuprobieren, zu experimentieren, mutig zu sein.
Mein persönliches Mantra lautet deshalb:
👉 Lieber fertig als perfekt. (better done than perfect)
Denn unfertige Projekte im Schrank blockieren deine Energie!
Mut zur Unvollkommenheit – beim Nähen und im Leben
Es geht nicht darum, gar keine Ansprüche zu haben. Es geht darum, den Unterschied zwischen „solide gemacht“ und „perfekt“ zu spüren – und sich bewusst für die Mitte zu entscheiden.
Im Leben wie beim Nähen gilt:
- Perfektionismus hält uns klein. Wir wagen nichts Neues.
- Unvollkommenheit macht uns menschlich. Sie lässt uns wachsen.
- Lebendigkeit schlägt Makellosigkeit. Denn kein Mensch fühlt sich in einem „perfekten“ Museum zuhause – sondern in einem lebendigen Raum, in dem Spuren von Leben sichtbar sind.
Jeder Fehler ist eine Gelegenheit zu lernen, keine Schande! Deshalb ist es ein Grund, sich über Fehler zu freuen und nicht zu versuchen, sie krampfhaft zu vermeiden.
Ok, wenn du z.B. Herzchirurgin bist – oder Flugingenieurin – solltest du schon Fehler bei der Arbeit vermeiden, aber dafür lernst und übst/trainierst du auch extrem viel! In deinem Nähzimmer entscheidet ein Fehler nicht über Leben und Tod oder löst eine fatale Katastrophe aus. Es sei denn, du machst dir die innere Katastrophe im Kopf selber.
Schlussgedanke: Nähen ist kein Wettbewerb
Die Frage „Bin ich schlampig, wenn ich Perfektionismus ablehne?“ lässt sich leicht beantworten: Nein.
Du bist frei. Du bist kreativ. Du bist mutig genug, dich nicht von einer Illusion kleinmachen zu lassen.
Eine Kursteilnehmerin von mir hatte einmal ein tolles Zitat geteilt:
Das Gegenteil von Perfektionismus ist nicht Versagen, sondern Freiheit.“ (Nicola Jane Hobbs, Psychologin).
Also: Näh mutig, näh lebendig, näh unperfekt – und vor allem, genieße es!
Ich bin neugierig: wie gehst du mit Perfektionismus (beim Nähen) um? Erzähle es gerne in den Kommentaren.
Letzte Aktualisierung am 26. August 2025 von Anja Dix