Wann hast du das letzte Mal etwas Neues gelernt?

neues Lernen

Ja, überlege mal – was war kürzlich etwas Neues, das du gelernt hast… Das muss nichts Großartiges sein, irgendeine Kleinigkeit. Vielleicht hast du ein neues Gerät, das du gelernt hast zu bedienen? Oder beim Kochen entdeckt, wie etwas super funktioniert? Oder eine neue Vokabel? Oder wie du mit Pivot-Tabellen in Excel arbeiten kannst? Uaaaargh. Scherz. Ja, oder wie du am besten dieses vermaledeite Falzgummi annähst. Uff. Ich bin wieder bei meinem Thema.

Warum nähe ich eigentlich so gerne?

Neues Lernen und Nähen ist für mich beides Seelennahrung. Ich brauche fürs Glücklichsein, dass ich immer wieder etwas Neues lerne. Ich liebe die Herausforderung, den Nervenkitzel, ob ich es hinbekomme. Ja, und Scheitern, Improvisieren gehört dazu. Wenn ich etwas gut beherrsche, ist es mir im Grunde langweilig. Genau deshalb liebe ich Nähen.

Jedes Projekt ist anders, jeder Stoff. Und es gibt noch so viel, was ich noch nicht ausprobiert habe – obwohl ich schon extrem viel genäht habe. Schuhe nähen? Ja, doch – das habe ich natürlich ausprobiert. Auch Socken. Beides gehört aber zu den Dingen, die ich noch kaufe (meine Füße sind ziemlich speziell…). Aber Unterwäsche? Klar nähe ich die. Eine Jeans? Yeah, eine tolle Herausforderung! Einen Mantel? Ja klar. Taschen? Quilts? Jawoll!

Unterwäsche ist ja nichts, was man (also ich…) normalerweise so öffentlich zeigt. Das selber nähen ist hier etwas nur für mich. Ok, Alltags-Schlüpfer sind zwar nur bedingt spannend zu nähen, wenn mal wieder zehn auf einmal kaputt gegangen sind und ersetzt werden wollen. Aber bei BHs und Bustiers kann ich noch so viel austesten. Und wenn es nichts wird? Na und? Ist nur Stoff. Und ich lerne unfassbar viel dabei. Vor allem wenn es nicht alles auf Anhieb klappt.

Ich weiß nicht, wo ich das Material dafür herbekomme? Na, dann wird eben recherchiert. Und im Zweifel improvisiert. Ich liebe auch den “Planungsprozess”, also Schnitt und Materialien zusammensuchen, Dinge zu kombinieren. Und wenn ich erst mal etwas testen will, dann nehme ich das was gerade da ist. Mein erster BH mit Reißverschluss vorne. Ich hatte kein Laminat (das ist so kaschierter Schaumstoff) da – aber Schaumstoff fürs Taschennähen (Stylevil bzw. Soft & Stable). Also habe ich mir den geschnappt, Reste von Sportlycra und einen alten (irgendwo herausgetrennten) teilbaren Reißverschluss. Einfach mal machen. Und es ist gut geworden. Ich wusste dann, ob der Schnitt so für mich passt, ich habe gelernt, wie ich einen Reißverschluss-Schutz einnähe (wer will schon einen Reißverschluss auf der nackten Haut haben?) und noch viel mehr.

Bei Fehlern passiert genau da das meiste Lernen.

Tatsächlich zeigt die Lernforschung, dass wir Informationen und Fähigkeiten nachhaltiger behalten, wenn wir uns mit Fehlern auseinandersetzen. Der sogenannte “desirable difficulty”-Effekt (Bjork & Bjork, 2011) beschreibt, dass Herausforderungen – ja, sogar Frustrationen – das Lernen effektiver machen. Wenn wir an etwas scheitern und es dann doch schaffen, bleibt es deutlich besser im Gedächtnis, als wenn alles glatt lief.

Also: Jeder Fluch an der Nähmaschine ist ein kleines neuronales Feuerwerk!


Fehlerkultur vs. Perfektionismus

Klar, man muss nicht jeden Fehler selber machen. Wenn mich jemand vorwarnt, dass ich besser beim Reißverschlussfuß die Nadel verstelle, damit sie nicht auf den Fuß knallt und bricht, finde ich das hilfreich.

Aber besonders im Gedächtnis bleiben mir die Sachen, bei denen ich an der Nähmaschine geflucht, rumgewürgt und gekämpft – und bestenfalls gewonnen – habe. Auch wenn der Nahttrenner mein Freund werden musste.

Denn “Fehler” helfen dabei, besser zu werden und zu lernen. Nur im Safety-Modus und in Watte gepackt – das wäre doch langweilig, oder?

Und das ist keine abgedroschene Nähweisheit, sondern gut belegbar.

In vielen Studien (z. B. van Dyck et al., 2005) wurde gezeigt, dass eine positive Fehlerkultur in Teams nicht nur das Lernverhalten, sondern auch die Leistung insgesamt steigert. Warum? Weil wir uns dann trauen, zu experimentieren, Fragen zu stellen – und dadurch schneller und nachhaltiger lernen.

Gilt im Büro. Gilt im Nähzimmer. Für Teams und auch für dich alleine (also ich spreche auch mit mir selber – das ist dann auch irgendwie ein Team, oder?).

Und ganz ehrlich: Wer beim Nähen nie einen Fehler macht, der näht entweder gar nicht – oder hat Wichtel bzw. Feen im Schrank, die helfen. Und wo gibt’s die bitte?


Nähen als Seelennahrung

Für mich ist Nähen das Hobby, das mich runterbringt, wo ich abschalten kann – und dabei jeden Tag dazulerne. Das kann sogar richtig therapeutisch sein.

Dass Nähen therapeutisch wirkt, ist übrigens auch belegt.

In einer Studie der Universität Bristol (Clarke, 2019) wurde das Nähen als eine Form der “handgemachten Achtsamkeit” beschrieben: Der kreative Prozess fördert das Selbstwertgefühl, reduziert Stress und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle. Und das ist nicht nur jenseits der Midlife-Crisis relevant – in dieser Studie wurden gezielt unter 40-jährige betrachtet.

Klingt ein bisschen esoterisch? Ja, und mit dem Wort “Achtsamkeit” (nicht dem Konzept, aber das Wort wird inzwischen so inflationär verwendet, dass es mich gruselt) tue ich mich persönlich auch schwer. Aber es ist dennoch genau das, was ich meine, wenn ich sage: Nähen bringt mich runter. Wenn ich Stoff in der Hand habe, mit Farben oder Mustern experimentiere und mich Stück für Stück durchs Projekt arbeite – dann bin ich ganz bei mir. Manchmal sogar mehr als beim Meditieren.


Zum Schluss: Es ist nur Stoff

Die Anspruchshaltung, dass alles “perfekt” sein muss, kann einen ganz schön blockieren. Das heißt nicht, dass ich nicht auch auftrenne, wenn es nicht gut ist – aber nicht, weil ich irgendeinem äußeren Anspruch gerecht werden will, sondern weil ich es will und lerne.

Das Akzeptieren von Fehlern heißt nicht, dass man “schlampig” ist (wer bestimmt das überhaupt? Und selbst wenn?). Ich finde, dass man ruhig einiges etwas lockerer nehmen kann – beim nächsten Mal versucht man dann, es besser zu machen. Außerdem: ist es ein “Fehler” wenn das Freihandquilting etwas unregelmäßig ist und man oft nicht die Linie getroffen hat? Ich finde: nein! Ich bin keine Stickmaschine oder Computer und das ist gut so. In der Natur findet man fast nie perfekte Geradlinigkeit oder absolute Symmetrie und außerdem: im Zweifel “verguckt” es sich.

Jedes Projekt ist eine Chance, daraus zu lernen. Wichtig ist, dass es mir gefällt und zu mir passt. Und nicht “das macht man so”.


Halleluja, das war jetzt aber ein Wort zum Sonntag.

Aber hey – warum soll man nicht mit Freude und ein bisschen Forscherinnengeist übers Lernen und Nähen schreiben? Für mich ist klar: Lernen (und Nähen) macht glücklich. Fehler helfen mir dabei. Und mein Nahttrenner ist kein Feind, sondern ein Begleiter auf dieser Reise. Und es ist auch gut, diesen Begleiter mal zu ignorieren, vor allem wenn es darum geht, dass etwas nicht “ganz perfekt” ist. Ok, wenn ich den linken Ärmel ins rechte Armloch genäht habe oder so etwas, dann darf er gerne dran. Aber einen Patchworkblock 5x auftrennen weil eine Nahtkreuzung nicht exakt ist? Nein. Ich nicht. Ich versuche aber, Techniken zu finden, wie es dann beim nächsten besser wird. Ich freue mich über “Zufallstreffer”. Und wenn es ein bisschen verschoben ist? Dann quilte ich später drüber mit dem Motto “das verguckt sich”.

Lesetipps & Quellen für Neugierige

Lernen durch Fehler – warum Scheitern gut für dich ist:

„Desirable difficulties“ helfen beim nachhaltigen Lernen. Wenn du dich anstrengst und Fehler machst, speicherst du Neues tiefer im Gehirn.

Bjork & Bjork (2011): Making things hard on yourself – but in a good way

Fehlerkultur rockt – nicht nur im Unternehmen:

Wer angstfrei Fehler machen darf, lernt schneller, besser und mit mehr Freude.

van Dyck et al. (2005): Organizational Error Management Culture and Its Impact on Performance

Nähen als Achtsamkeit:

Stiche gegen Stress! Kreative Handarbeit senkt den Cortisolspiegel, stärkt das Selbstwertgefühl und wirkt wie eine kleine Auszeit vom Alltag.

Clarke, N. A. (2019). Exploring the Role of Sewing as a Leisure Activity for Women’s Subjective Well-being. University of Bristol. Volltext als PDF 


Lasse mich gerne in den Kommentaren wissen, was dich zu dem Thema “Lernen und Fehlerkultur” bewegt oder ganz einfach, was du als letztes gelernt hast (egal was – nicht unbedingt etwas aus dem Nähbereich)!


Übrigens: hier auf meinem Blog gibt’s nicht nur philosophisches 😉 sondern auch ein paar “handfeste” Tutorials – zum Beispiel zu Briefecken, Bademode nähen, Gummis annähen oder dem String Quilt.

Letzte Aktualisierung am 23. April 2025 von Anja Dix

Veröffentlicht am

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